Hey ho, let's go (The Ramones)

Grundsätzlich sind Schmerzen ja ein Weckruf des Körpers: "Achtung, aufpassen, irgendetwas ist nicht in Ordnung!" Ich denke, soweit sind wir uns einig. Die Frage ist jetzt, wie wir damit umgehen. Mal ganz subjektiv und ohne wissenschaftliches Trara: Ich behaupte mal, die verbreitete Reaktion auf einen Schmerz besteht bei den meisten Menschen darin, dass sie vorsichtiger in dem werden, was sie tun. Ganz egal, was das ist.  Sie reduzieren also ihre Aktivitäten. Was ja im ersten Moment ja auch sinnvoll sein kann. Wir belasten das Gewebe weniger und suchen auf diese Weise nach einer Möglichkeit, die Schmerzen zu verringern. Deswegen humpeln wir, wenn unser Knöchel verstaucht ist.

 

Ein Schmerz kann aber auch Aufruf zu mehr Aktivität sein. Der erste instinktive Impuls ist vielleicht: "Oha, es tut weh! Besser, ich mach‘ mal langsamer." Denkbar wäre aber auch die Entscheidung, nicht langsamer zu machen, sondern anders zu machen. Oder überhaupt mal etwas zu machen. Insbesondere, wenn es um den typischen Rückenpatienten geht, haben wir es häufig ja nicht mit einer echten Verletzung zu tun, die einer Gewebsheilung bedarf.

 

Nehmen wir mal an, Du sitzt gerade auf einem Stuhl, während Du diesen Text liest. Vielleicht ein Bürostuhl oder ein Liegestuhl oder vielleicht sitzt Du auch in Deinem Bett, den Rücken ans Kopfteil gelehnt (während Du verzweifelt versuchst, eine Tasse Kaffee so auf den Knie zu balancieren, dass er nicht über Deinen Laptop schwappt). Du sitzt also irgendwo und liest diesen Text und wenn Du damit fertig bist, suchst Du noch nach anderen Texten oder schaust Dir YouTube-Videos von Leuten an, die Waschmittel essen oder ihren Kopf in eine Toilette stecken (oder beides zusammen – welche Challenge halt gerade aktuell ist).

 

Und irgendwann wirst Du Dich anders hinsetzen, ganz automatisch. Du wirst Deine Sitzposition verändern, aber nicht, weil Du bewusst denkst: "Boah, fünf Minuten um, ich ändere jetzt mal besser meine Sitzposition." Das Ganze passiert unbewusst, aufgrund subtiler Botschaften Deines Körpers, die Dir signalisieren: "Alter, setz' Dich anders hin, und zwar bald, sonst mache ich hier Rabatz!" Du setzt Dich also anders hin, und zwar meist, bevor es anfängt zu schmerzen oder sofort danach. Aber – und das ist entscheidend – Du hörst auf diese Botschaften und tust etwas!

 

Manchmal aber überhört man diese Signale. Passiert mir ständig: Ich arbeite eine oder zwei Stunden an einer Präsentation oder einem Text, bevor ich wahrnehme, dass ich gerade wie Gollum vor meinem Rechner hocke und mir der Sabber schon aus den Mundwinkeln läuft. Währenddessen krakeelen die Mechanorezeptoren seit einer halben Stunde im Rücken herum und hämmern gegen die Zellwände, aber weil ich auf diese blöde Präsentation fokussiert bin oder es schlicht verlernt habe, auf sie zu hören (nennen wir es Mechano-Taubheit), reagiere ich nicht.

 

Was also macht mein Körper? Er greift zum nächsten Mittel, das ihm zur Verfügung steht: Er produziert Schmerzen. Anders gesagt: Er schreit lauter! Weil etwa die Bandscheiben aufgrund der Haltung weniger mit Nährstoffen versorgt werden. Das hat nichts damit zu tun, dass die Haltung per se schädlich oder "Gift für den Rücken" wäre. Es kommt einfach auf den Zeitfaktor an. Jeder würde irgendwann anfangen rumzuzicken, wenn man ihm Nahrung oder Wasser verweigert. (Das Beispiel gilt nicht nur für Bandscheiben, sondern für jegliches Gewebe.)

 

In diesem Fall wären die Schmerzen also ein Appell an mich, aktiv zu werden – und nicht, meine Aktivität weiter zu reduzieren. Genau das aber ist in den Köpfen vieler Patienten verankert: "Es tut weh – also darf ich nicht mehr so viel tun!" Verbunden mit der Angst: "Wenn ich etwas tue, geht vielleicht etwas kaputt." Das wäre in diesem Fall etwa so, als wenn ich sagte: "Meine Güte habe ich einen Durst – da trinke ich mal besser nichts!" Schmerzen können also eine Art "Bewegungsdurst" und damit eindeutiger Aufruf zu Aktivität sein.

 

In unserer Gesellschaft kommt es nun häufig zu einer ungünstigen Verquickung unterschiedlicher Gedankengänge:

 

Ich habe a) mal gelernt, dass Schmerzen ein Alarmsignal sind, weil etwas kaputt geht oder kaputt ist. Und ich habe b) aufgrund des allgegenwärtigen Hintergrundrauschens aus Arbeit und Hektik verlernt, auf die dezenteren Hinweise aus den Mechanorezeptoren meines Körpers zu hören. Beide Punkte haben nicht zwingend etwas miteinander zu tun. Aufgrund einer herabgesetzen Wahrnehmungsschwelle bei gleichzeitig verminderter "Körperintelligenz", sehe ich aber keine andere Möglichkeit, als das eine mit dem anderen in Verbindung zu bringen. Ich schlussfolgere also, dass meine Rückenschmerzen Anzeichen für eine ernstzunehmende Problematik sind, die einer speziellen Therapie oder eines Medikaments bedürfen. Insbesondere noch, wenn etwa bildgebende Verfahren nahelegen, dass tatsächlich eine strukturelle Abweichung im Rücken vorliegt ( die aber, wie wir wissen, nichts bedeuten muss).

 

Sieh es mal so: Vermutlich hast Du als Teenager häufiger mal in Deinem Zimmer rumgehangen und was gelesen / mit Freunden gechattet / Deine Lieblingsserie geguckt etc. Und irgendwann kam Deine Mutter rein und hat Dich gebeten, den Müll rauszubringen. Als standesgemäßer Teenager hat Dich das nicht weiter interessiert, denn die Welt drehte sich um etwas anderes. Entsprechend homöopathisch fiel Deine Reaktion aus. Dann kam Deine Mutter ein zweites Mal rein, vielleicht auch ein drittes Mal, wobei sie ihre Bitte jedes Mal in etwas deutlicherer Form darbrachte. Bis sie beim vierten Mal dann explodierte und Dich anbrüllte, dass Du, wenn Du nicht sofort und stante pede den Müll rausbringen würdest, aber mal was erleben könntest.

So oder ähnlich. Auf jeden Fall war sie sauer auf Dich, weil Du etwas nicht getan hast. Und vor allem: Sie wollte unbedingt, dass Du etwas tust!

 

Kurz gefasst: Je nach Beschwerdebild können Schmerzen durchaus einen Appell des Körpers zu mehr Aktivität darstellen – und eben nicht zu weniger Aktivität. Natürlich muss man vorher abklären, ob das in diesem Fall auch wirklich so ist und nicht eine anders geartete Grunderkrankung vorliegt, bei der sich Bewegung eher negativ auswirken würde. Wichtig ist, dem Patienten klarzumachen, dass es mangelende Bewegung die Ursache seiner Schmerzen ist. Und vielleicht bei deiner Mutter anzurufen und für Dein Vergangenheits-Ich um Entschuldigung zu bitten.