#thisisebm

Um es gleich am Anfang klarzustellen: Ich bin absoluter Befürworter der evidenzbasierten Medizin (EbM). Meiner ganz persönlichen Ansicht nach sollte das als Heilmittelerbringer selbstverständlich sein. Umso mehr stutze ich immer wieder, wenn Kollegen und Kolleginnen das offenbar anders sehen. Momentan zumindest fühlt man sich fast schuldig, wenn man sich als Anhänger einer evidenzbasierten Herangehensweise zu erkennen gibt. Als hätte man Lepra oder Mundgeruch. Auf einer Tagung neulich tat einer der Referenten die EbM fast verächtlich als reines Theoriegewichse ab. "Geht Ihr mal ruhig forschen", so seine Ansage an die imaginären Wissenschaftler im Saal, "ich mache hier so lange praktisch weiter."


Als würde das eine das andere ausschließen.


Ich verstehe überhaupt nicht, woher diese Abneigung gegen EbM kommt. Eine Zeit lang war ja jeder drauf und dran, evidenzbasiert zu behandeln und sich Wissen anzueignen. Aber irgendwann kippte das Ganze in eine unschöne Richtung, auf der man seitdem ratzfatz Richtung Therapeutenschafott zu schliddern droht und in manchen Kreisen als Paria gilt, wenn man Worte wie "Studie" oder "Daten" in den Mund nimmt. Zumindest für einige scheint der Begriff mittlerweile fast zu einer Art Schimpfwort geworden zu sein. Online ist die Diskussionskultur ja ohnehin eine andere (und schlechtere, wie ich meine). Hier lässt sich der Streit zwischen EbM-Befürwortern und -Skeptikern täglich beobachten und ich habe nicht das Gefühl, dass da eine Annäherung stattfindet.


Ob es die eine Ursache des ganzen Schlamassels gibt oder das wieder eine multifaktorielle Geschichte ist, weiß ich nicht. Zumindest teilweise aber gründet das Problem meiner Ansicht nach in einem weitverbreiteten Missverständnis. Das übrigens gerne auch Fachleuten unterläuft. Dieser Tage ist zum Beispiel das Buch eines selbsternannten Experten auf den Markt gekommen, und dort lässt sich dieses Missverständnis astrein nachlesen. Auf S. 34 nämlich schreibt der Autor:


"Die evidenzbasierte Medizin stützt sich bei ihren Entscheidungen auf wissenschaftliche Belege. Sie erkennt prinzipiell nur das an, was durch Studien nachgewiesen wurde."


Und eben das ist falsch. Weil es nur eine verkürzte Beschreibung der EbM wiedergibt und dabei gleich zwei wichtige Aspekte unter den Tisch fallen lässt.


Evidenzbasiert – was heißt das eigentlich genau?


Zäumen wir das Pferd mal von hinten auf: Wofür steht die EbM nicht? Nun, eben nicht dafür, sich im Labor zu vergraben, seine Therapie gemäß dem Motto "Malen nach Zahlen" zu gestalten und den Patienten um Gottes Willen nicht anzufassen (ansprechen geht gerade noch). David Sackett, einer der Väter der EbM, sprach in diesem Zusammenhang davon, die EbM sei "keine Kochbuch-Medizin". Tatsächlich ist die Thematik etwas komplexer und gründet nicht auf reinem Zahlengeschrubbe. Die Cochrane-Stiftung definiert EbM wie folgt:

 

"Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten."


Also: Ja, es geht zunächst einmal um Studien, Daten und Statistiken. Allerdings steht da auch, dass diese Daten "gewissenhaft" und "vernünftig" interpretiert werden müssen. Ich lese also nicht nur ab, sondern stelle diese Daten in einen größeren Kontext. Ein gerüttet Maß an Reflexion und vielleicht sogar Skepsis der ein oder anderen Methode gegenüber ist nicht nur angebracht, sondern wird geradezu eingefordert. Wer lediglich blind mit Studien um sich schmeißt, der trifft zwar auch – aber vielleicht nicht das, was er will und nicht so häufig, wie er möchte. Und es geht noch weiter:

 

"Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung."


Damit wird eine zweite Sache angesprochen: Die (fraglos wichtigen) Zahlen sollen in der Praxis mit der klinischen Erfahrung des Behandlers verflochten werden. Klar, sonst müsste ich vermutlich nicht eine dreijährige Ausbildung oder ein Studium absolvieren, um Physiotherapeut zu werden. Der Wochenendkurs "Studien lesen und verstehen" täte es auch.

Und nicht einmal mit diesen beiden Aspekten erhalten wir das vollständige Bild. Bei Cochrane heißt es weiter:


"EbM stützt sich auf drei Säulen: die individuelle klinische Erfahrung, die Werte und Wünsche des Patienten und den aktuellen Stand der klinischen Forschung."


Tatsächlich, der Patient hat bei der ganzen Angelegenheit auch noch ein Wörtchen mitzureden. Total crazy, ich weiß, aber so ist es. Es wäre ja auch idiotisch, gerade ihn nicht zu fragen, was er denn überhaupt will. Natürlich muss und sollte ich ihm als Therapeut nahelegen, was dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand und meiner Erfahrung nach das Beste für ihn wäre. Gerade, weil ich es wohl in den meisten Fällen mit medizinischen Laien zu tun habe. Aber wenn er weder das eine noch das andere will, dann muss ich das zunächst einmal berücksichtigen (und sollte vielleicht mal meine Kommunikationsstrategien überdenken.) Zwingen jedenfalls kann ich ihn nicht. Wie ich ihn letztlich überzeuge, ist eine vollkommen andere Geschichte.


Wo liegt das Problem?


Im Alltagsgebrauch und von Kritikern wird die EbM gerne einzig und allein auf die erste Säule der externen Evidenz reduziert und damit als reine Theorieveranstaltung gebrandmarkt. Das ist dasselbe, als würde ich sagen "McKenzie besteht nur aus Extensionsübungen!" Klar, die sind mit Sicherheit ein großer Teil des McKenzie-Universums. Aber eben nicht alles. Und wer sich nur darauf beschränkt, tritt zu kurz (und macht im Falle McKenzie seinen Patienten möglicherweise deutlich schlechter).


Entscheidend bei der ganzen Sache ist das Wort "basiert". Wenn irgendein Sachverhalt die Basis für etwas anderes darstellt, dann bildet er die Grundlage, das Fundament. Er ist aber nicht die Sache selber! Aus dem NLP stammt der schöne Satz "Die Landkarte ist nicht das Gebiet". So ähnlich sehe ich das mit Studien in der EbM: Sie bilden den theoretischen Unterbau und geben damit die Richtung vor, in die ich mit dem Patienten arbeite. Sie müssen aber adäquat in die Praxis transferiert werden.

 

Ein Apfelstrudel basiert auf Äpfeln. Aber es reicht eben nicht, ein paar davon in den Ofen zu pfeffern, zusammen mit Rosinen und Teig, und dann auf das Beste zu hoffen. Es braucht die richtige Zubereitung, damit am Ende ein Kuchen entsteht – aber die Äpfel sind die verdammte Basis! Natürlich kann ich nachlesen, dass Krafttraining bei Arthrose hilft. Aber es wäre idiotisch, dem Patienten einfach zu sagen, er solle gefälligst ein paar Squats machen, verbunden mit der Aufforderung "Auf Dein‘ Nacken!" Okay, das kann im Einzelfall funktionieren (im sehr, sehr einzelnen Einzelfall). Beim Großteil der Patienten eher nicht.


Nochmal: Natürlich schaue ich mir zunächst die externe Evidenz an, prüfe also, was rein statistisch betrachtet am häufigsten und besten funktioniert und beginne dann genau damit. Ich wäre ja bekloppt, die zur Verfügung stehenden Daten nicht zu nutzen. Wieso sollte ich mir das Leben unnötig schwer machen? Ich meine, wenn mir angezeigt wird, dass der Tank meines Autos leer ist, gehe ich ja auch nicht hin und prüfe den Reifendruck. (Behaupte ich jetzt einfach mal. Aber ich habe auch keine Ahnung von Autos.)

 

Ich darf eben nur nicht den Fehler machen, an diesem Punkt stehenzubleiben und dem Patienten lediglich einen Folianten kopierter Studie vor den Latz zu knallen. Ich muss weitergehen, die zweite und dritte Säule einbeziehen und abarbeiten. Denn die gehören eben genauso dazu und vor allem zu einer ordnungsgemäßen Implementierung in die Praxis. Sie sind nur etwas schwieriger zu untersuchen und anzuwenden, weil sie a) schlechter quantifizierbar sind und b) etwas mehr an sogenannten Soft-Skills erfordern, die weit darüber hinausgehen, nur nach Bauplan am Patienten herumzuzerren. Es geht um Dinge wie Kommunikation, Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis, die sich nun mal schlecht in simple Formeln pressen lassen.


Die andere Seite


Jetzt wird ein Teil sich vermutlich bestätigt fühlen und denken: "Siehste – sind ja doch nicht nur die Studien!" Nein, natürlich nicht. Aber es ist eben auch nicht nur die eigene Expertise oder das, was der Patient will. Ich weiß nicht, ob das eine spezifisch deutsche oder spezifisch physiotherapeutische Krankheit ist, alles immer im "Entweder-Oder"-Modus zu betrachten. Wenn mich mein Leben eines gelehrt hat, dann dass es in den seltensten Fällen schwarz oder weiß ist – sondern in 99 Prozent grau. Ich sollte also subjektive Befindlichkeiten nicht außen vor lassen – aber auch nicht überbetonen. Wie schon Kurt Tucholsky wusste:


"Laß dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: ‚Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!‘ - Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen."


Klar, vielleicht habe ich 20 Jahre Erfahrung in der Behandlung von Rückenpatienten. Dann sollte ich das selbstverständlich in meine Behandlung einfließen lassen. Wenn meine Erfahrung aus diesen 20 Jahren mir allerdings sagt, dass es maximal der Hälfte meiner Patienten nach der Behandlung besser geht, wird es Zeit umzudenken. Sich selber zu hinterfragen, bringt einen weiter. Genauso, wie langgehegte Angewohnheiten über Bord zu schmeißen. Das reinigt.


Trotzdem: Warum EbM?

 

Man kann argumentieren: "Aber meinen Patienten geht es doch besser – auch ohne EbM! Warum also sollte ich was ändern?“ Zum einen, weil die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass es deinen Patienten aus anderen Gründen besser geht, als Du vielleicht glaubst. Und die Wissenschaft ist bislang immer noch die beste Methode um herauszufinden, wie und warum etwas funktioniert. Immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, nicht in Extreme zu verfallen, mich also für eine Position zu entscheiden, die irgendwo zwischen Tarotkarten und dem bloßen Herausschreien von Konfidenzintervallen liegt. Und zum anderen, weil die Welt sich weiterdreht. Schreibmaschinen und Pferdefuhrwerke funktionieren heutzutage auch noch, keine Frage. Trotzdem wirst Du vermutlich nicht auf den Gedanken kommen, sie in der täglichen Arbeit einzusetzen.


Todd Hargrove, kanadischer Feldenkrais-Lehrer, hat drei gute Gründe gefunden, wieso das Wissen um die Zusammenhänge und Wirkungsweisen einer Behandlungsmethode für den Behandler von Bedeutung sind:

 

1. Erst wenn man versteht, wie etwas funktioniert, kann man es verbessern.

2. Ich unterbinde falsche Schlussfolgerungen, die zu noch mehr Konfusion

    oder in die falsche Richtung führen.

3. Wahrheit besitzt einen Wert an sich.

 

Dem möchte ich einen vierten, sehr subjektiven Grund hinzufügen: Ich persönlich schätze die Wissenschaft dafür, dass sie zum Fragen ermutigt und sich nicht auf den Standpunkt zurückzieht, sowieso schon alles zu wissen. Das wäre Scheuklappengetue. Mal ganz davon abgesehen, dass ich es intellektuell ermüdend fände, eine Sache zu lernen und für den Rest des Lebens anzuwenden.

 

Fazit


Irgendwann während der vergangenen Monate äußerte jemand in der Facebook-Gruppe, eine evidenzbasierte Herangehensweise habe bei ihm dazu geführt, dass weniger Patienten kämen. Weil es ihnen offensichtlich besser geht oder sie bessere Coping-Strategien vermittelt bekamen, um mit ihren Problemen umzugehen. Was zum einen heißt, dass EbM offenbar wirkt (und damit ein weiteres Argument für ihre Anwendung darstellt). Das ist die positive Sichtweise. Auf der negativen Seite befürchtete der Kollege offenbar konkrete finanzielle Einschnitte. Weil er weniger behandelte.


Ich kann diese Sorgen nur bedingt nachvollziehen. Selbstverständlich muss ich sehen, wo ich wirtschaftlich bleibe. Aber gerade die Physiotherapie bietet mir ein riesiges Spektrum an Tätigkeiten und Möglichkeiten, innerhalb derer ich nicht nur meine Zeit sinnvoll verbringen, sondern dabei auch noch Geld verdienen kann. Es erfordert natürlich mehr Arbeit, als Woche für Woche auf die verlässlich wiederkommenden Klientel mit den immergleichen Beschwerden zu warten.


Die Alternative dazu ist keine Schöne. Sie lautet: Ich behandele absichtlich schlechter, damit der Patient länger bei mir bleibt und ich finanziell was davon habe. Das wiederum kann nicht das Ziel sein. Ich habe mal Urlaubsvertretung in einer Praxis gemacht und im Zuge dessen einen Patienten behandelt, der seit 30 Jahren jede Woche einmal zur Massage kam, um seine Rückenschmerzen zu lindern. Ich habe gar nicht so viele Ausrufezeichen, wie ich in diesem Satz unterbringen könnte. Sicherlich ein Extrembeispiel, aber sowas gibt es.


Wäre ich gehässig, würde ich sagen: Ich bin froh über jeden Kollegen, der nicht evidenzbasiert arbeitet. Weil er mir damit Gelegenheit gibt, mich von ihm abzuheben. Aber es geht nicht um mich, sondern um den Patienten. EbM darf nicht zum reinen Selbstzweck verkommen, das wäre der falsche Weg. Zuallererst muss der Patient im Fokus stehen.

In diesem Sinne: Frohes neues Jahr!


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Kommentare: 4
  • #1

    Pat Preilowski (Donnerstag, 27 Dezember 2018 15:45)

    Super, Thomas! Vielen Dank für den sehr aufschlussreichen Text. Bitte mehr davon in 2019 ;-) Guten Rutsch Dir!

  • #2

    Oliver Schmidtlein (Freitag, 28 Dezember 2018 08:42)

    Wunderbar zusammengefasst. Danke dafür.

  • #3

    Thomas Nickl (Sonntag, 30 Dezember 2018 16:17)

    Hi Thomas,
    Super Text!

    "Glaube den Menschen, die auf der Suche nach der Wahrheit sind und zweifle an denen die behaupten sie gefunden zu haben." - André Gide

    Guten Rutsch und viel Erfolg in 2019!

    Cheers,
    Tom

  • #4

    Eric Will (Montag, 14 Januar 2019 15:42)

    Moin Horn*,

    ich habe ja von Deinem Fachgebiet ungefähr soviel Ahnung wie Du vermutlich von meinem aber die
    grundsätzliche Denkweise im Artikel lässt sich wunderbar in andere Bereiche übertragen - Daumen hoch!!

    Übrigens gefällt mir auch Dein Stil, da macht das Lesen mehr Spaß.

    Gruß,
    Eric

    *ich weiß, diese Höflichkeit/Förmlichkeit bist Du von mir nicht gewohnt aber an so einer Stelle verzichte ich mal auf die übliche, liebevolle Anrede :-)