Wie man sich selber krankdenkt

„If there‘s a bustle in your hedgerow, don‘t be alarmed now“ (Led Zeppelin)

 

Ich war die vergangene Woche auf Wandertour im Schwarzwald. Das hört sich jetzt nach spießiger Sommerfrische an, nach 60er-Jahren und Filmen mit Theo Lingen. Aber Wandern ist etwas, was ich nur jedem empfehlen kann. Man latscht fünf oder sechs Stunden durch die pralle Natur, kommt irgendwann schwitzend und stinkend im Hotel an, schaufelt sich einen Berg Essen in die Plauze und kippt dann ins Bett, um zehn oder mehr Stunden wie ein Stein durchzuschlafen. Nur damit der selbe Blödsinn am nächsten Tag wieder von vorne losgeht. Wirklich sehr empfehlenswert.

 

Aber das wollte ich nicht erzählen. Sondern von meinen Knien und davon, welchen Einfluss Erwartungen, Befürchtungen, Ängste und Gewohnheiten eine Rolle in Bezug auf unseren Körper spielen. Vielleicht ist dem ein oder anderen die Snake-Story von Lorimer Moseley ein Begriff. Meine ist ähnlich gelagert, wenn auch mangels giftiger Kriechtiere weniger dramatisch.

 

Ich wanderte also durch den Schwarzwald. Und bemerkte irgendwann ein Geräusch in meinem linken Knie. Es war kein echtes Knirschen oder Reiben. Eher eine Art Kratzen oder etwas dergleichen, es ließ sich nicht eindeutig identifizieren. Aber es war jedes Mal klar zu hören, wenn ich meinen linken Fuß aufsetzte, ihn belastete und dabei das Knie beugte. Egal, auf welchem Untergrund, egal ob bei Anstiegen oder auf ebener Strecke – das Geräusch war da. Und nach einiger Zeit begann es mir Sorgen zu machen.

 

Dazu muss ich sagen: Ich hatte schon immer Kniegeräusche. Als Teenager litt ich mehrere Jahre sowohl an einer Chondromalacia patellae als auch Morbus Osgood-Schlatter, und zwar an beiden Knien. Keine schöne Zeit. Es gab Monate, während derer ich kaum schmerzfrei Fahrradfahren, geschweige denn Sport machen konnte. Glücklicherweise sind beide Erkrankungen weitgehend selbstlimitierend, und mit zunehmenden Alter gingen die Beschwerden zurück. Heute habe ich so gut wie keine Probleme mehr und alles in allem geht es meinen Knien sehr gut. Ich bin es also gewohnt, dass bei bestimmten Bewegungen ein leichtes Knirschen auftritt, mehr aber auch nicht.

 

Darüber hinaus bin ich selber Physiotherapeut, habe mich in den vergangenen Jahren intensiv mit den Erkenntnisse der Schmerzentstehung und -verarbeitung auseinandergesetzt und erkläre anderen Menschen, wie sie besser mit ihren Schmerzen umgehen können. Da werde ich ja wohl mit meinen eigenen zurande kommen. Ich wusste, dass Gelenkgeräusche nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben, meine eigenen Kniegeräusche störten mich ja auch nicht weiter, also was soll‘s? Hier allerdings kamen zwei Dinge zusammen:

 

1. Das Geräusch war neu und mir nicht bekannt. Es ist ein bisschen so, wie wenn man in seinem Auto sitzt, einem etwas älteren Modell mit ein paar mehr Kilometern auf dem Tacho, in dem es an allen Ecken und Enden immer mal klappert. Und dann sitzt man da, gondelt durch die Landschaft und das Auto macht mit einem Mal ein neues Geräusch, eines, das vorher noch nicht da war. Automatisch springt irgendwo im Kopf eine Warnlampe an und man wird hellhörig. So ging es mir und ich wusste nicht, was das bedeuten sollte.

 

2. Seit den unrühmlichen Tagen der Chondromalacia patellae und des Osgood-Schlatter sind die Knie ein sensibler Punkt in meiner Wahrnehmung geblieben. Noch immer erwische ich mich dabei – manchmal täglich –, dass ich etwa beim Treppesteigen oder im Gym insbesondere mein linkes Bein schone. Unbewusst versuche ich dann, die Belastung auf der Seite zu reduzieren, verfalle in subtile Ausweichbewegungen oder es blitzt die alte Erwartungshaltung auf und ich denke: "Oh, gleich wird es weh tun." Obwohl es nie weh tut. Es ist schon erstaunlich, wie tief solche Verhaltensmuster sich in den Kortex graben.

 

Ich war also mit einem Mal sehr viel aufmerksamer als normal und gedanklich voll auf mein Knie fokussiert. Was war da los? Wo lag das Problem, wo kam das Geräusch her? In den Wochen vor der Wanderung hatte ich damit begonnen, wieder regelmäßig zu laufen und ich befürchtete, mein Knie ein wenig überlastet zu haben. Mein Therapeutenhirn begann natürlich – und ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte – mit einem Befund. Vielleicht waren es die Menisken? Vielleicht war der Knorpel aufgrund der Erkrankungen doch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden, als angenommen. Zwanzig Jahre lang hatte er kompensieren können, aber jetzt war er eben durch. Und aus diesen ersten Überlegungen entspannen sich sofort weitere Gedankenfäden: Wie lange würde das Knie noch mitmachen? Sollte ich weniger wandern? Würde ich in zehn Jahren überhaupt noch wandern können, meine Güte?

 

Vielleicht neige ich auch ein wenig zum Hypochondertum, aber ohne dass ich es wollte war mein Kopf plötzlich mit tausend Gedanken angefüllt und alle drehten sich um mein Knie. Und je länger ich nachdachte, desto dunkler wurden diese Gedanken. Ich versuchte mich natürlich dagegen zu wehren. "Ach, komm! Du hast andere Geräusche im Knie, die machen auch keine Probleme. Also mach Dich nicht verrückt. Das ist nix!" Aber in diese positiven Gedanken drängelte sich bei jedem Schritt dieses unbekannte Knirschen und nagte daran herum. Ich meinte auch, einen beginnenden Schmerz an der Außenseite zu spüren (das Geräusch kam eher von außen, als von innen), insbesondere bei steilen Anstiegen. Es tat nicht wirklich weh, aber es fühlte sich unangenehm an. Das führte dazu, dass ich bei jedem Schritt noch etwas mehr ins Knie hineinhorchte und mein Gehirn gewillt war zu sagen: "Shit, es tut weh! Shit, es tut weh! Shit, es tut weh …!"

 

Irgendwann legte ich eine Pause ein, um etwas zu trinken und mit die Umgebung zu betrachten. Gerade im Schwarzwald sind Unmengen an Greifvögeln zu beobachten (besonders viele Rotmilane). Ich trug Cargo-Hosen, diese Dinger mit den zusätzlichen Taschen außen an den Hosenbeinen. Nicht dass ich in meiner 90er-Jahre-Grunge-Phase steckengeblieben wäre (die war furchtbar), ich trug die Hosen aus rein praktischen Erwägungen, denn in diesen Taschen lässt sich tonnenweise Krempel verstauen, der nicht mehr im Rucksack Platz findet und den man gleichzeitig immer griffbereit hat.

 

Also angelte ich mein Fernglas aus der linken Beintasche. Und war erstaunt, dabei dasselbe Geräusch zu hören, das beim Gehen aus meinem Knie zu kommen schien. Ich wühlte ein wenig tiefer in der Tasche herum – und förderte eine kleine Streichholzschachtel zutage. Ich erkannte sie sofort wieder, weil ich sie erst am Abend zuvor aus unserem Hotel mitgenommen hatte. Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Alles, was ich gehört hatte, waren die Streichhölzer gewesen, die bei jedem Schritt in der Schachtel herumgeworfen wurden. Ich schüttelte die Schachtel kurz, um das zu überprüfen und stellte erleichtert fest, dass es sich um exakt dasselbe Geräusch handelte, das ich in meinem Kniegelenk verortet hatte. Zur Sicherheit machte ich auch ein paar Schritte ohne Schachtel in der Tasche – und das Geräusch war verschwunden. Ich hatte die Quelle gefunden, das Geräusch war erklärt. Alle Sorgen in bezug auf mein Knie verpufften augenblicklich. Und auch der leichte Schmerz trat an den folgenden vier Tage nicht mehr auf.

 

Die Geschichte hat mir zwei Dinge verdeutlicht:

 

1. Auch als Fachmann ist man vor solchen Erfahrungen nicht gefeit. Trotz all des Wissens, das man sich angeeignet hat. Unsere eigenen Emotionen und Gedanken beeinflussen und stärker, als wir glauben und können Dinge mit einem veranstalten, die sich nicht einfach rational wegerklären lassen. So sehr man das vielleicht auch versucht.

 

2. Das gilt natürlich umso mehr für Patienten, die dieses Wissen nicht besitzen und bestimmte Dinge nicht einordnen können. Dafür sind wir da. Aber vielleicht tun wir bestimmte Dinge auch häufig zu schnell als harmlos ab. "Ja, Geräusche kommen vor, das ist nichts worüber Sie sich Sorgen machen müssen." Aber wir können nie sagen, welche Bedeutung ein Patient diesen Geräuschen beimisst. Was das emotional mit ihm macht, welche gedanklichen Verstrickungen, welche Ängste oder Befürchtungen sich für ihn daraus ergeben. Da lohnt es sich nachzufragen. Lieber einmal mehr, als einmal zu wenig.

 

Fragt den Patienten, wo er sich emotional und mental gerade befindet. Was das Problem für ihn bedeutet, was er darüber denkt. Und holt ihn dann genau da ab.  

 


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