Faulheit & Widerstand gehen Hand in Hand

Die Ziele einer Physiotherapie können recht unterschiedlich sein. Der eine möchte seinen Rückenschmerz loswerden, der zweite unfallfrei die Kellertreppe bewältigen und der dritte einfach sein Knie wieder benutzen können. Aber nicht nur die Inhalte sind unterschiedlich – auch Patient und Therapeut wollen eventuell unterschiedliche Dinge erreichen. Der Patient möchte vor allem, dass sein gesundheitlicher Status sich verbessert. Mit dieser Erwartung kommt er zur Therapie. Der Therapeut dagegen möchte vielleicht erreichen, dass der Patient sein Verhalten dahingehend verändert, dass die Verbesserungen auch nachhaltig wirken und nicht nur bis zum Wochenende.

 

Für mich ist genau dieser letzte Teil der wirklich schwierige und anspruchsvolle. Ich habe keine Probleme, jemandem einen Trainingsplan zusammenzustellen oder ihn eine Stunde lang eine Übung nach der anderen runterreißen zu lassen. Dazu muss ich nicht Therapeut sein. Aber ihn dazu zu bewegen, im Alltag nicht in alte Denk- und Verhaltensmuster zu fallen (die ihn ja offensichtlich in eine Problemlage manövriert haben, sonst wäre er nicht hier), das stellt eine eine echte Herausforderung dar.

 

Aber warum ist gerade dieser Punkt so schwierig? Vielleicht, weil alte Gewohnheiten nur langsam sterben, wie der Volksmund weiß. Und vielleicht auch, weil uns als Außenstehenden bestimmte Aspekte von Veränderungen nicht immer bewusst sind. In ihrem Buch "Switch" beschreiben die beiden Autoren Chip und Dan Heath häufige Missverständnisse in Bezug auf Veränderungen. Zwei der wichtigsten sind meiner Ansicht nach die folgenden.

 

1. Was wie Faulheit aussieht, ist oft Erschöpfung

   (What looks like laziness is often exhaustion)

 

Veränderungen erfordern bewusstes Umdenken und Handeln. Erst wenn ich mir über mein bisheriges Verhalten im Klaren bin, kann ich es willentlich verändern. Das allerdings geht immer mit geistiger Anstrengung einher.

 

Wir alle kennen diese Momente, wenn wir irgendwelche Tätigkeiten vollkommen automatisch erledigen, ohne bewusst darüber nachzudenken. Wir sind dann im "Flow". Im Auto passiert mir das ständig. Auf Strecken, die ich regelmäßig fahre, erwische ich mich immer wieder dabei, dass ich plötzlich denke: "Ach, hier bin ich schon!" Ich habe nicht geschlafen oder so (immerhin!), lege aber mehrere Kilometer in einer Art Trance zurück, während mein Bewusstsein sich mit irgendwelchen gänzlich anderen Dingen beschäftigt. Deswegen sind diese Fahrten nicht anstrengend.

 

Ganz anders dagegen, wenn ich in einer mir fremden Stadt unterwegs bin. Dann muss ich geistig voll präsent sein und mich konzentrieren. Wann ich wo abbiegen soll, ob der graue Kasten da vorne vielleicht ein Blitzer ist, welche der drei Ampeln an der Kreuzung speziell für Linksabbieger gilt, auf Höhe welcher Hausnummer ich mich gerade befinde, wenn ich weiß, dass mein Ziel die 142 ist und ob es davor oder in der Nähe einen Parkplatz gibt. Auf Automatismen kann ich mich nicht verlassen, weil ich für diese spezielle Umgebung keine Erfahrungswerte besitze. Stattdessen muss ich meine bewusste Aufmerksamkeit bemühen. Und das ist anstrengend. Denn genau wie muskuläre Arbeit verbraucht Aufmerksamkeit Energie. (Deswegen drehen übrigens viele Menschen das Radio leiser, wenn sie nach dem Weg suchen oder in eine enge Lücke einparken müssen. Musikhören frisst Arbeitsspeicher, schmälert also die Ressourcen, die wir in so einem Fall dringend benötigen.)

 

Übertragen auf die Therapie heißt das: Neue Verhaltensweisen zu lernen ist wie das Autofahren in einer fremden Stadt. Alles ist neu und wir müssen ständig konzentriert und fokussiert sein, um Fehler möglichst zu vermeiden. Mache ich die Übung so richtig, ist die Ausführung korrekt? Atme ich regelmäßig? Die wievielte Wiederholung war das? Wo spüre ich was? Usw. All das erfordert maximale Aufmerksamkeit und damit Ressourcen. Und deswegen kann es passieren, dass der Klient seinen vermeintlich simplen Trainingsplan für zu Hause nicht befolgt, weil irgendeine scheinbare Banalität dazwischengekommen ist. Vielleicht musste er mit seinem Hund zum Tierarzt und konnte deshalb seine 15 Kniebeugen nicht machen. Im Stillen denkst Du Dir: "Alter, 15 Kniebeugen dauern eine Minute – wenn überhaupt! Was erzählst Du mir da?"

 

Der Punkt ist aber, dass der Tierarztbesuch eine unvorhergesehene und stressbehaftete Abweichung vom üblichen Prozedere darstellte. Tier einpacken, zum Arzt fahren, mit dem Arzt reden, Ergebnisse abwarten, nach Hause kommen, das Ganze verarbeiten ─ all das hat vielleicht den Großteil der mentalen Kapazitäten aufgefressen. Und für die 15 Squats, so lächerlich einem das erscheinen mag, war dann einfach nicht mehr genug übrig. Ich bin sicher, der Klient wollte diese Squats machen, wirklich. Aber er konnte nicht mehr.

 

Überleg‘ Dir kurz, wie es war, als Du das letzte Mal versucht hast, eine Gewohnheit zu verändern. Vielleicht hast Du eine Diät ausprobiert. Man will sich gesund ernähren, kommt nach einem wirklich, wirklich stressigen Tag nach Hause und anstatt sich einen Salat anzurichten, ruft man doch schnell bei Domino‘s an. Ja, bitte mit extra Käse! Das gönne ich mir jetzt einfach, der Tag war ja so anstrengend usw. Du kennst das. Dabei ist es völlig egal, dass der Salat in zehn Minuten fertig gewesen wäre, man auf die Pizza aber eine halbe Stunde warten muss. Es geht darum, dass Salatessen abseits Deiner Gewohnheiten liegt. Das durchzuziehen erfordert geistige Widerstandskraft. Die aber wurde durch den stressigen Tag schon aufgebraucht. Also Scheiß auf den Salat – Schinken-Ananas, ich komme.

 

Unterschätze nicht den mentalen Aufwand, den Klienten für eine Umstellung ihrer Gewohnheiten betreiben müssen. Für Dich ist es vielleicht normal, dreimal pro Woche ins Fitnessstudio zu gehen. Weil: Das macht man eben so. Für andere bedeutete es einen enormen Schritt aus der Komfortzone.

 

2. Was wie Widerstand aussieht, ist oft mangelnde Klarheit

    (What looks like resistance is often lack of clarity)

 

In derselben Liga wie die scheinbare Faulheit spielt auch der scheinbare Widerstand. Und der wächst zumeist auf dem Mist des Therapeuten! Zumindest bei mir war es so. In meinen beruflichen Anfangstagen hatte ich mich zunehmend mit evidenzbasierten Herangehensweisen und der Unzulänglichkeit bisheriger Ansätze beschäftigt. Tenor war: Physiotherapie zeitigt vor allem unspezifische Effekte. Ob ich eine bestimmte Übung auf die eine oder andere Art ausführte, war offenbar nicht wirklich wichtig, ja, anscheinend war es nicht einmal von herausragender Bedeutung, welche Übung ich dem Klienten gab. Hauptsache, er bewegte sich. Entsprechend vage gestrickt waren meine Vorgaben, wenn es um Hausaufgaben ging. "Mach diese oder jene Übung. Irgendwas zwischen fünf und 15 Wiederholungen, morgens oder abends." Darauf in etwa beschränkte ich mich. Der Klassiker aus diesem Bereich ist das berühmte "Sie müssen sich mehr bewegen", ein Satz, den man in seiner abgelutschten Schwammigkeit komplett aus dem Repertoire streichen sollte. Genauso gut könnte ich zum Patienten sagen "So jung wie heute kommen wir nicht mehr zusammen!"

 

Mittlerweile bin ich dazu übergangen, sehr spezifische Anweisungen zu geben. Nicht weil es irgendwelche biomedizinischen Vorteile hätte. Aber je genauer das Gerüst, das ich meinem Patienten gebe, desto besser kann er sich daran entlanghangeln, desto besser wird er geführt und desto weniger mentale Ressourcen (s. Punkt 1) erfordert die Sache. Was es sehr viel wahrscheinlicher macht, dass er sich an seinen Übungsplan hält, was wiederum den Therapieverlauf positiv beeinflusst.

 

Auch dabei muss man allerdings einige Dinge beachten. Zum Beispiel die Tatsache ─ und das ist nicht böse gemeint ─, dass ein Teil der Bevölkerung keinerlei oder nur eine gering ausgeprägte Bewegungssozialisation erfahren hat. Was meine ich damit? Für Dich als jemanden, der sich gerne bewegt, der vielleicht regelmäßig trainiert und/oder Sport treibt, ist es relativ leicht, Bewegungen zu analysieren, nachzuvollziehen, im Kopf zu behalten und später korrekt wieder abzurufen. Aber das geht nicht jedem so. Manchen fällt das wahnsinnig schwer.

 

Ich kann mich an einen LWS-Patienten erinnern, der eine Übung für den anstehenden Urlaub haben wollte, um seine Schmerzen im Griff zu behalten. Ich zeigte ihm eine einfache LWS-Extension aus dem Stand nach McKenzie. Simpler geht es fast nicht: Du stehst aufrecht und streckst Dich aus dem Rücken nach hinten. Ich meine, was ist daran nicht zu verstehen? Als er aus dem Urlaub zurückkam, meckerte er herum, sein Schmerz sei kein Stück besser geworden. Ich fragte ihn, ob er seine Übung gemacht habe, was er bejahte. Dann fragte ich ihn, ob er mir vormachen könne, wie er die Übung gemacht habe. Also stellte er sich hin und veranstaltete eine kompliziert aussehende Verrenkung, die rein gar nichts mit der von mir ursprünglichen gezeigten Bewegung zu tun hatte. Ich habe bis heute nicht kapiert, wie darauf gekommen ist. Vielleicht hat er nicht aufgepasst, vielleicht waren meine Anweisungen einfach Scheiße, wer weiß!

 

Was heißt das zusammengefasst für Dich?

  1. Stell‘ sicher, dass Dein Klient verstanden hat, was Du von ihm erwartest.
  2. Erkläre ihm, warum er diese Übung machen soll und was sie vermutlich bewirkt.
  3. Mach ihm die Übung vor. Lass ihn das Ganze mit seinem Smartphone filmen.
  4. Lass ihn anschließend die Übung vormachen. Nicht einmal. Nicht zweimal. Besser: Zehnmal.
  5. Gib exakte Angaben hinsichtlich Ausführung, Wiederholungszahlen und Serien/Sätzen.
  6. Kläre ihn über einen möglichen positiven oder auch negativen Symptomverlauf auf. Wann er mit der Übung fortfahren und wann er vielleicht besser aufhören sollte.
  7. Gib ihm maximal drei Übungen für zu Hause mit. Besser: Eine einzige!
  8. Noch einmal: Stell‘ sicher, dass er verstanden hat. Kläre offene Fragen!

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Kommentare: 1
  • #1

    Marcel Kluge (Dienstag, 09 Juli 2019 10:38)

    Sehr gut und treffend formuliert! Tatsächlich ist ein nachhaltiger „Lifestyle Change“ häufig der Punkt, an dem der langfristige Therapieerfolg scheitert.