Was bin ich?

"Was glauben Sie, wer Sie sind?"

 "In Indien glauben wir nicht, wer wir sind,

wir wissen, wer wir sind."
(Hrundi V. Bakshi in "Der Partyschreck")


Seit ich vorgestern Abend ins Bett ging, habe ich über mein Selbstverständnis als Therapeut reflektiert. Ich versuchte mich nämlich – aus Daffke, wie man bei uns zu Hause zu sagen pflegte – mit einem lässig-schwungvollen Hüpfer in die Laken zu schmeißen. Klappte auch. Nur schaffte ich es dabei, mir das rechte Knie dermaßen zu verdrehen, dass ich die vergangenen beiden Tage mit ziemlichen Schmerzen und Quasimodo-mäßig durch die Gegend humpele. Keine Ahnung, was genau das Problem ist. Vielleicht hat der Meniskus was abbekommen, vielleicht das Innenband, die Kapsel oder irgendwas in der Art. Ich weiß nur, es tut weh. Und wie das so ist, wenn man plötzlich selber die Rollen als Betroffener einnimmt: Man macht sich so seine Gedanken. Diese Gedanken sehen folgendermaßen aus: Was hätte ich unter normalen Umständen getan, als Laie?

 

Klar, ich hätte Hilfe bei einem medizinischen Experten gesucht. Wäre also zu meiner Hausärztin gegangen und die hätte mir vielleicht ein Rezept für Physiotherapie ausgestellt (oder mir geraten, ein paar längere Spaziergänge zu unternehmen, um das Gewebe in Bewegung zu halten – meine Hausärztin ist da sehr praktisch veranlagt). Nun bin ich selber Therapeut und natürlich kam mir sofort die Frage in den Sinn, was ich jetzt selber tun konnte und sollte.

Nach längerem Nachdenken musste ich mir eingestehen: Nicht viel. Und ich war einigermaßen erstaunt darüber. Vor zehn Jahren hätte ich vermutlich stundenlang im Internet nach der einen geheimen Innenmeniskusübung gesucht, die alles wieder geraderückt. Oder eine Faszientechnik angewendet, damit die entzündungsbedingten Verklebungen sich lösen. Gelympht, getaped oder der aufsteigenden Ketten wegen am Atlas herumgefummelt. Irgendwas in der Art.

 

Nach allem, was wir derzeit wissen, würde das nicht sehr viel bewirken – zumindest nicht sehr viel mehr, als der erwähnte Spaziergang (den ich auch tatsächlich gemacht habe). Mir fielen auf Anhieb nur drei Dinge ein, die ich einem Patienten mit meinen Beschwerden hätte mitgeben können:

 

  1. Ich hätte ihn aufklären können. Über Art und Sinn der Schmerzen, über Heilungsphasen und darüber, dass eine Meniskusläsion im mittleren Alter weder selten, noch schlimm ist
  2. Ich hätte zu regelmäßiger Aktivität im schmerzfreien Bereich geraten 
  3. Ich hätte ihm gute Besserung gewünscht

 

Klar, ich hätte den ein oder anderen Test machen können. Aber selbst wenn ich dann festgestellt hätte, dass es der Meniskus ist – meine Therapieplanung wäre davon nicht großartig beeinflusst worden. Weil ich einen gerissenen Meniskus ja nicht einfach wieder zusammenpappen kann. So gut wie alle "klassischen" Techniken hätten mir also nicht weitergeholfen.

 

Und damit sind wir beim Punkt: Ein Großteil des heutzutage spürbar in der Therapeutenszene verbreiteten Miesepetrigkeit und vor allem der gegenseitigen Anfeindungen gründen meiner Ansicht nach auf einer zunehmenden Unsicherheit und vielleicht sogar Angst. Weil die Wissenschaft uns Schritt für Schritt all dieser klassischen Physio-Tools beraubt. Und zwar in einem rasantem Tempo. Wir können täglich in irgendeiner Fachzeitschrift oder einem Forum lesen, dass diese oder jene Technik, seit Jahrzehnten fest im physiotherapeutischen Kanon verankert, objektiv betrachtet wenig bis gar nichts bewirkt. Womit uns gefühlt mehr und mehr die fachliche Existenzgrundlage entzogen wird. Denn wenn Manuelle Therapie kaum eine spezifische Wirkung zeitigt, genauso Lymphdrainage, Bobath, PNF, Elektrotherapie, all dieser Kram – wozu gibt es uns dann überhaupt noch? Was ist unser Alleinstellungsmerkmal, ja, unsere berufliche Daseinsberechtigung? Solche Fragen stellen die ganze Geschichte auf eine emotionale Basis, die gefährlich ist, weil das Rationale flöten geht.

 

Die zwei großen Herausforderungen der vielbeschworenen Physiotherapie 2.0 (oder bei welcher Versionsnummer wir mittlerweile auch angekommen sein mögen) sind vielleicht: Wir müssen, erstens, weg von dem Gedanken, etwas mittels unserer Hände heile machen und "fixen" zu können. Tun wir nicht. Da gibt es auch kein großes Drumherumgerede. Wir schieben kein Gewebe durch die Gegend, lösen Verklebungen oder zentrieren Gelenke. Jemand schrieb mal sehr schön, der menschliche Körper sei kein Tonklumpen, an dem man nach Belieben herummodellieren könne.

 

Stattdessen verlagert sich die Rolle des Therapeuten in den vergangenen Jahren mehr hin zu der eines Coaches. D.h. wir können Ratschläge geben, ermutigen, aufklären, begleiten. Wir können dem Patienten sagen, was nach allen verfügbaren Erkenntnissen vermutlich hilft. Wir können ihm Übungen zeigen und anleiten. Ihm die Sinnhaftigkeit einer Lebensstiländerung vermitteln und bei Fragen zur Verfügung stehen.

 

Und das erfordert, zweitens, eine massive Umstellung unseres Selbstverständnisses als Therapeuten. Wir müssen endlich das tun, was wir unseren Patienten seit Jahren und Jahrzehnten einbläuen: Uns verändern! Das ist leichter gesagt als getan. Für einen Therapeuten, dem von Beginn seiner Ausbildung an bestimmte Dinge auf eine bestimmte Art und Weise erklärt wurden und der hauptsächlich gelernt hat, mit den Händen am Patienten zu arbeiten und das seitdem auch tut, ist eine Verhaltensänderung genauso schwierig, wie für den Rückenpatienten, der seit 20 Jahren keinen Sport gemacht und wenig Bock auf Bewegung hat.

 

Wie exakt diese Verhaltensänderung funktioniert, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur: Es würde besser funktionieren, wenn wir uns auf eine gemeinsame Ebene und eine verbindliche Art der Kommunikation einigen. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass gerade wir Physiotherapeuten doch einen gesteigerten Wert auf Kommunikation legen und immer wieder ihre Wichtigkeit im Kontext der Behandlung betonen. Um dann beim ersten Anzeichen fachlicher Differenzen jegliche Etikette über Bord und uns selbst gehen zu lassen. Woher kommt das?

 

Was bleibt also zu tun? Wir sollten in erster Linie keine Angst vor Veränderung haben oder den Anschluss zu verlieren. Gerade heute bieten sich mehr Möglichkeiten fachlich dazuzulernen, als je zuvor. Dasselbe gilt für die Möglichkeiten innerhalb und abseits der Behandlungsbank. Davon kann jeder profitieren, wenn wir bereit sind, unsere neue Rolle zu akzeptieren und Veränderungen aktiv anzugehen, anstatt sie mit uns geschehen zu lassen.


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Kommentare: 4
  • #1

    Jan (Samstag, 14 September 2019)

    Du sprichst mir aus der Seele! Danke, für diesen ermutigenden Start in den Tag. Gruß aus Kiel!

  • #2

    Anna (Samstag, 14 September 2019 10:58)

    Sehr toller Einblick in deine Gedanken zu diesem Thema! Danke dafür! :)

  • #3

    Stefie (Samstag, 14 September 2019 13:13)

    Toll geschrieben und ich erkenne mich wieder.

  • #4

    Doris (Samstag, 14 September 2019 14:58)

    Ja diese Unzufriedenheit und Ablehnung von Studien ist der bequeme Weg, sich nicht verändern zu müssen.
    Aber wenn ich heutzutage oder auch generell eine gute Therapeutin sein möchte, muss ich mich informieren und anpassen. Danke für diesen Text!